Der Mann, der zurückkam


Ein 91-jähriger US-Veteran kehrt Jahrzehnte nach seiner Dienstzeit nach Oberursel zurück – und entdeckt gemeinsam mit seinem Sohn, wie lebendig Erinnerung sein kann.

Als Thomas „Tom“ Jackson die Hand auf das alte, glatt polierte Geländer im Eingangsbereich der Motorenfabrik legt, scheint für einen Moment etwas in ihm anzuklingen, das lange geschlummert hat. Er schließt kurz die Augen, atmet ruhig ein – und lächelt dann, als habe eine Erinnerung den Weg zurück in die Gegenwart gefunden.

Tom ist 91 Jahre alt. Er ist aus Minneapolis angereist, begleitet von seinem Sohn Michael „Chuck“ Jackson. Die Geschichten seines Vaters kennt Chuck seit Jahrzehnten – doch die Orte dazu sieht er heute zum ersten Mal.
Gemeinsam steigen sie die breite Treppe hinauf, bis Tom im ersten Stock vor einer schweren Holztür stehen bleibt. „This was my office“, sagt er leise. Ohne Pathos, eher wie eine Feststellung, die lange in ihm bereitlag. Im heutigen Sitzungssaal setzt er sich an die Stelle, an der früher sein Schreibtisch stand. Der Raum hat sich verändert – Farben, Möbel, Zweck –, doch die Proportionen stimmen noch. „Feels familiar“, sagt er. „Different, but familiar.“

Ein Ort, der Erinnerungen freilegt

Der Rundgang führt weiter durch das Gebäude. In einer heutigen Bürofläche zeigt Tom auf eine Ecke, die in den 1950er-Jahren sein Schlafplatz war. An den vergitterten Fenstern im Untergeschoss, dort, wo einst der „Red Room“ – das Mannschaftscasino – lag, bleibt er stehen. „We used to get a beer here“, sagt er – eine Erinnerung, die trägt, auch wenn der Raum längst verschwunden ist.
Nichts wirkt bei ihm schwer oder belastet. Seine Erinnerungen sind leicht, warm und erstaunlich präzise. Die Vergangenheit ist für Tom kein Ort des Verlusts, sondern einer der Vertrautheit.

Wie alles begann – eine E-Mail und ein Impuls

Der Besuch beginnt nicht in einem Archiv, sondern an einem Nachmittag in Plymouth im Großraum Minneapolis, Minnesota. Beim Stöbern im Internet stößt Tom auf die Website der Motorenfabrik – und schreibt spontan eine E-Mail an den Geschichtskreis. „I was in the US Army in 1955 and was stationed in Oberursel at the Motorenfabrik building for the entire year of 1955. If I were to travel to Oberursel some time this summer, would it be possible for me to visit the room we used as barracks and the office room where I worked?“
Wochen später ist der Austausch mit Helmut Hujer vom Geschichtskreis Motorenfabrik Oberursel e. V. bereits Routine.
„Er hat Oberursel wirklich in seinem Herzen getragen“, sagt Hujer. „Man merkte sofort, wie wichtig ihm dieser Ort war.“

Der US-Veteran war zwar schon einmal, Mitte der 1970er-Jahre, kurz in Oberursel gewesen – ein Besuch ohne die Gelegenheit, die Orte seiner Jugend wirklich wiederzusehen. Doch die Erinnerungsreise jetzt, gemeinsam mit Sohn Chuck, besitzt eine andere Tiefe. Sie ist bewusster, persönlicher.

Ein junger GI in Europa – und ein Kontinent voller Möglichkeiten

Als Tom Mitte der 1950er-Jahre nach Oberursel kam, war er 20 Jahre alt. Seine Radarausbildung fand hier keine Anwendung, weshalb er eine Verwaltungsstelle im Headquarter des 85th Ordnance Battalion übernahm. Er erinnert sich: „I wrote a lot back then. That’s how I stayed connected.“
Viele der Orte und Erlebnisse, die er heute wiedererkennt, tauchten schon in seinen fast im Wochenrhythmus an die Familie gesendeten Briefen nach Hause („Army Letters Home“) auf.

Und Europa bot viel: London. Paris. Prag. Rom. Genf. Genua. Wien. Nizza. Pisa. Und viele Destinationen mehr. Tom hatte damals rund 30 Tage Urlaub im Jahr – Zeit, die er und seine Kameraden nutzten, um zu reisen, zu entdecken und Europa in all seinen Facetten kennenzulernen. „It was a thrilling time“, sagt er. „So many places, so many stories.“

Einige dieser Eindrücke kommen später im Rathaus wieder auf, als er seine farbigen Aufnahmen aus den 1950er-Jahren – damals alles andere als selbstverständlich – zeigt und die Städte und Orte nochmals lebendig werden lässt.

Er fotografierte viel: Sehenswürdigkeiten, Märkte, Straßenszenen, Kameraden, Momente. Wenn er heute ein altes Farbfoto neben ein aktuelles Bild hält, entsteht ein leiser Riss zwischen den Zeiten – und zugleich eine Verbindung. Und vor allem ein staunendes Lächeln aller, die die Motive betrachten.

Oberursel als zweites Zuhause

Viele Abende verbrachte Tom in Frankfurt – in der Texas Bar und im „Meiers Gustl“ in der Münchener Straße. „The waitresses were very pretty“, sagt er und lacht – ein Lachen, das zeigt, wie bildhaft diese Erinnerung geblieben ist.

Und Oberursel selbst? „People were friendly“, sagt er. „We met often in bars, restaurants, talked, laughed — we understood each other well.“

Und dann ist da noch Hildegard. Wenn ihr Name fällt, blitzen seine Augen. Mehr sagt er nicht. Es genügt.

Begegnungen in der Motorenfabrik – und im Rathaus

Während des Besuchs erkennt Tom überraschend viele Details wieder. Der Blick, mit dem er durch die Räume geht, ist wach, konzentriert. Manchmal bleibt er stehen, weil ein Fenstermaß, eine Griffleiste oder eine Tür ihn an damals erinnert.

Auch im Rathaus, empfangen von Stadtrat Jens Uhlig, erzählt er lebhaft – und fragt ebenso viel. Er ist neugierig auf das Heute, nicht nur verankert im Damals. Wie sich die Stadt verändert hat. Was geblieben ist. Wie Camp King heute genutzt wird.

Vater und Sohn – zwei Perspektiven auf denselben Ort

Für Chuck ist die Reise ein besonderes Erlebnis. „It’s very special to be here with him“, sagt er. Er sagt es schlicht, doch in diesem Satz steckt viel – die Geschichte eines Sohnes, der die Orte der Jugend seines Vaters zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht.
Die beiden bewegen sich ruhig, aufmerksam durch die Stadt. Es ist keine Inszenierung, sondern ein gemeinsamer Schritt in einen Teil der Familiengeschichte, der bislang nur einer von ihnen kannte.

Nach den Tagen in Oberursel reisen Tom und Chuck weiter nach Berlin. Tom war trotz seiner vielen Reisen in den 1950ern nie dort gewesen. Nun holen sie das nach, sehen die Stadt, sprechen viel – und lassen die Eindrücke der vergangenen Tage wirken.

Der letzte Abend – und ein leiser Schluss

Am letzten Abend in Oberursel sitzen Tom und Chuck im Brauhaus.
Tom bestellt zum Essen ein Bier. „German beer is still the best“, sagt er und lacht. Die Stimmung ist leicht; sie erzählen Geschichten, die jetzt nicht mehr nur Erinnerung sind, sondern Teil dieser gemeinsamen Reise.

„It means a lot to be here with him“, sagt Chuck, schlicht, ohne große Gesten. Wenige Tage später, zurück in den USA, schreibt Tom eine kurze Nachricht:
„Thank you so much. It was a wonderful time.“
Vielleicht fasst dieser einfache Satz die Reise besser zusammen als jedes große Schlusswort.



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